Guten Morgen, Deutschland

Von Marco Wehr 

Fortschritt kann auch Rückschritt sein: Nachdem die Pannenflieger der deutschen Flugbereitschaft in der letzten Zeit öfter wie störrische Esel den Dienst versagten und verstockt am Boden blieben, hob jetzt einer ab, nachdem er vorher aufwendig gewartet worden war. Leider war er schneller wieder am Boden, als man gucken konnte und es ist wohl dem fliegerischen Geschick des Piloten zu verdanken, dass es auf dem Flughafen Berlin-Schönefeld keine Toten zu beklagen gab. Man kann diesen bemerkenswerten Vorfall in den Fokus stellen, um dann langsam die Blende aufzuziehen, wenn man etwas über den Zustand Deutschlands unserer Tage erfahren möchte.

Die deutsche Flugbereitschaft gehört zur Bundeswehr und damit sind wir im Herrschaftsbereich von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Auch wenn Frau von der Leyen nicht alle Fehlentwicklungen selbst zu verantworten hat und teilweise die Suppe auslöffeln muss, die ihr ihre Vorgänger eingebrockt haben, die Liste der Dinge, die bei der Bundeswehr nicht funktionieren, ist beeindruckend: So wurden für mehrere Milliarden Euro neue Fregatten angeschafft. Leider vergaß man, genug Matrosen auszubilden, sodass man die Schiffe nur in beschränktem Maße nutzen kann. Neben den Fregatten besitzen wir auch hochmoderne U-Boote. Nur fahren die leider ebenfalls nicht — oder nur ganz selten. Man hielt die Wartungsverträge für zu teuer, nachdem man schon für die Boote soviel Geld ausgegeben hatte. Jetzt lassen sie sich nicht mehr richtig in Gang bringen. Doch zumindest für diesen Lapsus hat man eine „Lösung“ gefunden: Die U-Boote sind zwar immer noch malade, man hat sich aber entschlossen, über den prekären Sachverhalt einfach nicht mehr zu berichten. Dieser „Trick“ erinnert ein bisschen an ein kleines Kind, das sich, nachdem es etwas ausgefressen hat, die Augen zuhält, weil es glaubt, auf diese Weise unsichtbar zu werden. Wo soll man weiter machen? Bei der Gorch Fock? Dem Sturmgewehr G36? Den Hubschraubern?

Oder bei den rätselhaften Bemühungen der Ministerin, in der Bundeswehr um „Gleichstellung“ zu kämpfen? Es wird allen Ernstes erwogen, die Einstellungs- und Ausbildungsanforderungen soweit zu senken, dass von der Armee fast niemand mehr ausgeschlossen wird. Alle sollen mitmachen dürfen, auch Übergewichtige, die weder von ihrer Konstitution noch Kondition als Soldat geeignet sind. Von der Leyens „Logik“ ist in diesem Zusammenhang nur für sie selbst schlüssig: Wenn die „antiquierten“ Gewaltmärsche mit schwerem Gepäck, die reale Einsatzbedingungen simulieren sollen, von vielen jungen Menschen in schlechter körperlicher Verfassung nicht mehr bewältigt werden können, dann sorgt man nicht dafür, dass die Überforderten belastbarer werden, man schafft einfach die Märsche ab! Das klingt einleuchtend. Und eine solche Logik ist ja gerade auch salonfähig. Wenn Berliner Schüler, die als Opfer eines aus den Gleisen gesprungenen Bildungssystems, schlechte Noten schreiben, dann wird eben einfach weniger hart zensiert. So
brauchen sie nicht so viel zu büffeln und sind auf dem Papier trotzdem so gut wie Schüler aus Bayern und Sachsen, die wirklich was können. Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt! Doch bei Lichte besehen ist eine solche Form von Pippi-Langstrumpf-Philosophie nicht lustig. Im Falle der Rekrutenausbildung ist sie geradezu fahrlässig. Diese, sich dem Zeitgeist andienende Einstellung, kann für Soldaten im wirklichen Einsatz tödliche Konsequenzen haben. Wie sieht es mit dem Segen der Gleichmacherei aus, wenn den müden Kriegern auf der Flucht im Gebirge beim ersten Anstieg die Beine lahm werden und sie von zähen Taliban verfolgt werden, die in den Bergen groß geworden sind und schon das Messer wetzen? 

Die Bundeswehr in ihrer fragwürdigen Verfassung steht nun pars pro toto für ein Phänomen, das in Deutschland beginnt, endemisch zu werden: Wir verlieren immer mehr Kompetenzen, richten uns aber trotzdem in einer bestimmten Art der Selbstgefälligkeit gemütlich ein und laufen dabei sogar Gefahr, uns international lächerlich zu machen. 

Wenn mein kolumbianischer Freund Carlos vor dreißig Jahren Besuch aus seiner Heimat bekam und er seine Gäste beeindrucken wollte, dann lud er sie zu einer Bahnfahrt ein. Den Südamerikanern fiel regelmäßig die Kinnlade herunter, weil sich der Zug genau in dem Augenblick in Bewegung setzte, in welcher der Sekundenzeiger auf die Zwölf sprang. In der Heimat erzählten sie dann, dass man nach deutschen Zügen die Uhr stellen könnte. Das ist heute niemandem mehr zu empfehlen. Pünktlichkeit bei der Bahn ist etwas, das man nur noch vom Hörensagen kennt. Zwar fahren die Züge jetzt pfeilschnell und die Bahnhöfe sind zu gewienerten Flaniermeilen geworden, die keine muffigen Pornokinos mehr beherbergen. Nur die Kernkompetenz ist auf der Strecke geblieben. In Anlehnung an den bekannten Spruch, mit dem Baden-Württemberg lange für sich geworben hat, ist man versucht zu sagen: „DB? Wir können alles — außer Bahnfahren“.

Und die Deutsche Bahn ist nicht das einzige aus dem Gleichgewicht geratene deutsche Großprojekt. Man braucht nur an den Hauptstadtflughafen in Berlin zu erinnern oder an die leidige Energiewende. Selbst die Türkei, von China wollen wir hier gar nicht mehr reden, ist offensichtlich in der Lage, Projekte wie den Istanbul New Airport ohne größere Probleme zu stemmen. In Deutschland kommen wir bei solchen Unterfangen definitiv an unsere Grenzen. Wie kommt das? Vielleicht hat das was damit zu tun, dass wir die Fertigkeit, uns selbst ein Bein zu stellen, perfektioniert haben. Zumindest sind wir virtuos darin, rigide Systemlogiken zu entwickeln, diese dann zu einem Selbstzweck hochzustilisieren und sie in der Folge — koste es, was es wolle — unnachgiebig zu exekutieren. Aber diese selbstauferlegten Zwänge führen dazu, das Große und Ganze aus dem Blick zu verlieren. Nehmen wir als Beispiel den Brandschutz. Ohne Zweifel sind wir unumstrittener Weltmeister im Einhalten von Brandschutzrichtlinien geworden! Diese verändern und verschärfen sich in Deutschland schneller, als man Bauten fertigstellen kann. Keine Frage, es ist richtig, fundamentale Brandschutzrichtlinien zu beachten! Trotzdem muss man die Kirche im Dorf lassen und es empfiehlt sich, zur Kenntnis zu nehmen, dass pro Jahr gerade etwa 400 Menschen in den Flammen sterben! Und vor der Erschaffung des mittlerweile paranoiden Regelkanons, der allen Innovationswilligen die Luft zum Atmen nimmt, waren es nur unwesentlich mehr! Warum also das Ganze in diesem exzessiven Umfang? Die traurige Antwort: Es handelt sich nicht wirklich darum, Geld so einzusetzen, dass möglichst vielen Menschen geholfen wird. Es geht in erster Linie um Partikularinteressen, die eine rasante Eigendynamik entwickelt haben. Brandschutz ist in Deutschland still und heimlich zu einem brummenden Multimilliardengeschäft geworden, von dem viele profitieren, nur eben nicht die, deren Interesse es ist, ein komplexes Projekt fertig zu stellen. Das filigrane Regelgespinst hält mittlerweile hunderttausende Menschen in Lohn und Brot.

Nur zum Vergleich: In Deutschland sterben etwa so viele Menschen durch Ertrinken, wie in den Flammen. Wollte man mit ähnlichem Aufwand wie beim Brandschutz die Leute vor dem Ertrinken retten, müsste man — metaphorisch gesprochen — an den Ufern aller größeren Gewässer im Abstand von zehn Metern einen Bademeister aufstellen und jeden Tümpel mit einem Stahlgitter überkronen. Und um die eigentlich gesellschaftlich maßgeblichen Größenordnungen nicht aus dem Blickfeld zu verlieren: Jedes Jahr erliegen in Deutschland etwa 70.000 (!) Menschen einer Sepsis (vulgo Blutvergiftung). Würde man nur wenige Millionen Euro (nicht zig Milliarden) in Aufklärung stecken, ließen sich nach Überzeugung von Fachleuten leicht 10.000 Menschen retten. Wenn es also tatsächlich um Menschenleben geht, könnte man mit einem Bruchteil des Geldes, das man im  Brandschutz verbaut, mit Leichtigkeit ein Vielfaches an Leben retten.

Wenn wir über schlingernde Großprojekte reden, darf die Energiewende nicht unerwähnt bleiben. Hier sind wir unter anderem mit der verstörenden Tatsache konfrontiert, dass sich hunderte Windräder in Deutschland einfach „leerdrehen“, Strom fließt in die Netze leider nicht. Sie arbeiten allein fürs gute Gewissen. Die Windmüller bekommen aber trotzdem ihren Lohn. Und wieder sind wir mit den Zwängen einer fragwürdigen Systemlogik konfrontiert. Leider haben wir es bis dato nicht geschafft, überall die passenden Leitungen zu bauen, da es allerorts geharnischten Widerstand gibt. Von Menschen etwa, die Angst vor „Elektrosmog“ haben. Dafür können die Eigner der Windräder natürlich nichts und so füllt sich nach der fragwürdigen Logik des Erneuerbare-Energien-Gesetzes trotzdem das Säckel der Betreiber, paradoxerweise gerade mit dem Geld, das man dem ärmeren Teil der Bevölkerung, der sich weder Windrad noch Solarmodul leisten kann, aus der Tasche zieht.

Aufbauen und abschließen scheint gerade also ein echtes Problem zu sein. Dafür funktioniert Abbauen umso besser. Ohne allzu große Not nehmen wir eine exzellent funktionierende Kraftwerkstechnologie vom Netz, mit deren Hilfe wir in der Summe mehr CO2 einsparen würden, als mit der genannten Energiewende. Von einer nach wie vor umweltfreundlichen Dieseltechnik im Automobilbau, die auch im Vergleich mit den jetzt allseits hofierten Elektroautos konkurrenzfähig ist, wollen wir hier gar nicht sprechen. 

So sind Beispiele, die belegen, wie Deutschland im Augenblick recht ungelenk in die Zukunft stolpert, fast beliebig zu vermehren.

Unterm Strich wären wir deshalb gut beraten, aufzuwachen. Wir müssten uns die Mühe machen, ernsthaft zu diskutieren, was für uns wirklich primär und was sekundär ist. Es wäre vermutlich keine schlechte Idee, sich auf alte Stärken zu besinnen und gleichzeitig die Bereitschaft zu zeigen, genau zu schauen, was andere tun und leisten. Wer schon einmal in Hongkong war, wird bestätigen, dass es dort ein Nahverkehrssystem gibt, von dem wir Europäer in seiner Exzellenz nur träumen können. Da gäbe es für uns viel zu lernen. Vorausgesetzt natürlich, wir sind bereit zu
verstehen, dass all die Annehmlichkeiten, die wir heute so selbstverständlich in Anspruch nehmen, immer wieder neu erworben werden müssen und zwar im Wettbewerb mit Menschen, die mit Verve dahin wollen, wo wir sind. Und die mittlerweile einen Zacken wendiger sind als wir.


Marco Wehr ist studierter Physiker, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker. Er hat über die Chaostheorie promoviert. Marco Wehr arbeitet als freier Autor, schreibt für die FAZ und verfasste mehrere Bücher. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Vorhersehbarkeit, mathematische Modellierung und die Beziehung von Körper und Denken. Augenblicklich gründet er in Tübingen das Philosophische Labor — einen Freiraum für Neudenker (www.das-philosophische-labor.de).